Ayatollah über Nacht. Khameneis Bemühungen, eine „Quelle der Nachahmung“ zu werden
„Über Nacht Ayatollah werden“ und „Mit einem Sprung zur höchsten Instanz der Nachahmung“ gehören zu den bekanntesten Anspielungen auf die Bemühungen, Khamenei als „Höchste Instanz der Nachahmung“ für die schiitischen Gläubigen vorzustellen.
Den ersten Ausdruck formten einige Anhänger des linken Flügels in den ersten Monaten der Führerschaft Khameneis, den zweiten Ayatollah Hossein Vahid Khorasani zu Beginn einer Vorlesung am 9. April 2014 in der großen Moschee von Qom, freilich ohne den Namen Khameneis zu nennen. Der Führer der Islamischen Republik war Marja’, Instanz der Nachahmung, während Khamenei nicht nur kein Marja’ war, sondern, wie Geistliche mittleren Ranges, als Hojjatol-Eslam angeredet wurde. Dies betrachtete er als Schwachpunkt, besonders gegenüber anderen, höherrangigen Geistlichen wie Ayatollah Montazeri, dem ursprünglich designierten Nachfolger Khomeinis.
Kurz nachdem er Oberster Führer geworden war, verfiel er darauf, sich die Titel Ayatollah und „Instanz der Nachahmung“ zuzulegen. Wie der Islamgelehrte Mohsen Kadivar schreibt, verwandelte er in diesem Bemühen sein äußeres Erscheinungsbild von dem eines intellektuellen in das eines traditionellen Geistlichen. So tauschte er sein elegantes Obergewand gegen ein traditionelles aus, wobei er später allerdings noch ein nicht traditionelles Palästinensertuch hinzufügte. Auch gab er in der Öffentlichkeit das Pfeife Rauchen auf.“
Ayatollah Khomeini hatte Khamenei immer nur als Hojjatol-Eslam bezeichnet, während er seine gelehrten Schüler mit „ Hojjatol-Eslam va’l Muslimin“ („Beweis des Islams und der Muslime“) anredete und für Instanzen der Nachahmung „Ayatollah“ benutzte. So nannte er Ali Meshkini, das Oberhaupt der Expertenversammlung Hojjatol-Eslam va’l Muslimin und Ayatollah Montazeri einmal „Ayatollah“ und ansonsten ebenfalls Hojjatol-Eslam va’l Muslimin.
Traditionellerweise werden Geistliche, die an der theologischen Ausbildungsstätte länger studiert haben und einen höheren Rang einnehmen, Hojjatol-Eslam va’lmuslimin genannt, während man Geistliche, die ausgedehnte Studien außerhalb des islamischen Rechts betrieben haben, mit Ayatollah anspricht. Herausragende Instanzen der Nachahmung werden Groß-Ayatollah genannt.
Niemand von den Instanzen der Nachahmung gratulierte Khamenei in der Woche nach seiner Wahl zum Obersten Führer der Islamischen Republik. Erst am 20. Juni 1989, am siebten Tag Khamaneis in seinem neuen Amt, wurde ein Groß-Ayatollah Araki zugeschriebener Brief veröffentlicht.
Als Ayatollah Khomenei starb, waren die wichtigsten Instanzen der Nachahmung Abu’l Qasem Mousavi Khoei, Sayyed Mohammad Reza Mousavi Golpayegani, Sayyed Shahaboddin Marashi Najafi, Mirza Hashem Amoli und Hossein Ali Montazeri, wobei Ayatollah Golpayegani den höchsten theologischen Rang innehatte. Die Entourage Khameneis propagierte dagegen plötzlich Ayatollah Araki, der damals schon 95 Jahre alt und nicht mehr im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war.
Hashemi Rafsanjani schrieb diesbezüglich: „Herr Ibrahim Amin (ein Ayatollah und Mitglied der Expertenversammlung) kam und sagte, Herr Montazeri ist gegen die Führerschaft Khameneis und billigt sie nicht. Ich sagte, er solle sich bemühen, dass er sie billigt und wir werden an seiner Qualifikation zur Instanz der Nachahmung arbeiten. Dann kamen Herr Mohammad Aba’i Khorasani und Herr Morteza Bani Fazl ( zwei weitere Geistliche und Mitglieder der Expertenversammlung). Sie sagten das Gleiche und fügten noch hinzu, dass man andernfalls Herrn Mohammad Ali Araki als Quelle der Nachahmung ins Gespräch bringen könne. Dieser halte es für erlaubt, auch einem Verstorbenen zu folgen, sogar in neu auftauchenden Fragen.“
Mohsen Kadivar zufolge lassen sich einige Termini im vorgeblichen Brief Ayatollah Arakis nicht mit dessen islamischen Rechtsprinzipien vereinbaren, glaubte er doch nicht an die Herrschaft des obersten Rechtsgelehrten, auf der die Islamische Republik aufbaute.
Laut Akbar Hashemi Rafsanjani Memoiren war auch Ayatollah Golpayegani nicht bereit, Khamenei zu beglückwünschen. Der neue Führer brach als erster das Schweigen, indem er Golpayegani für sein Totengebet über dem verstorbenen Ayatollah Khomenei dankte. Daraufhin benutzte dieser in seiner Antwort den Titel Hojjatol-Islam va’l-muslimin für Khamenei. Diese Botschaft wurde bei den auf der Internetseite des Obersten Führers aufgeführten Glückwünschen zensiert.
Ayatollah Montazeri schrieb am 13. Juni 1989 in einer an Khamenei gerichteten Nachricht „Inshaallah wird er sich in wichtigen und entscheidenden Fragen mit den Groß-Ayatollahs und herausragenden Gelehrten und informierten Persönlichkeiten beraten.“
Ayatollah Montazeris Brief wurde im Staatsfernsehen verlesen, Khameneis Antwort wurde in den Zwei-Uhr-Nachrichten ebenfalls veröffentlicht, jedoch nicht in den Abendnachrichten.
Akbar Hashemi Rafsanjani bemerkt dazu: „Abends wurden Herr Montazeris Brief und die Antwort darauf nicht verlesen. Ich fragte Herrn Khamenei nach dem Grund. Er sagte, im Büro seien viele Beschwerde-Anrufe eingegangen. Daher habe er um göttliche Rechtleitung gebetet und beschlossen, ihn im Fernsehen nicht weiter zu veröffentlichen.“
Keiner der Instanzen der Nachahmung benutzte den Titel Ayatollah für Khamenei. Nur Mirza Hashem Amoli, der Vater der Brüder Larijani, nannte ihn so und beschrieb ihn mit Eigenschaften wie „gelehrt, islamkundig und einsichtsvoll“. Damals war Mirza Hashem Amoli 90 Jahre alt, und sein Büro wurde von Sadeq Larijani geführt. Die positive Äußerung über Khamenei mag den Boden für Sadeq Larijanis Karriere bereitet – Khamenei sollte ihn später zum Chef der Justiz ernennen – und auch die Positionen der anderen Brüder konsolidiert haben.
Crash-Kurs in islamischem Recht
Nach Erhalt der Glückwunsch-Botschaften von den Instanzen der Nachahmung war einer der ersten Schritte, um die Nachahmungswürdigkeit des Obersten Führers der Islamischen Republik zu untermauern, die Bildung eines „Rechtsgelehrten-Rates“, damit Khamenei sich, wie ein Schüler kurz vor der Abschlussprüfung, die Grundlagen des islamischen Rechts (Fiqh) aneignen konnte.
Die Mitglieder dieses Rates, der Teheraner Freitagsimam Mohammad Emami Kashani, Ayatollah Ahmad Jannati, Abol-Ghasem Khazali, Jafar Karimi, Ayatollah Mohammad Momen Qommi, Ayatollah Mohammad Mohammadi Gilani, Ayatollahs Mohammad Reza Mahdavi Kani, Sayyed Mahmoud Hashemi Shahroudi und Mohammad Yazdi, waren alle Geistliche und Mitglieder der Expertenversammlung, des Wächterrates, oder beides.
Khamenei begann das Studium des islamischen Rechts ab dem Jahre 1990. Was er während der Sitzungen sagte, wurde nicht veröffentlicht und auch Audio-Mitschnitte sind, anders als bei den übrigen Mitstudenten, nicht zugänglich. Vielleicht weil eine Veröffentlichung noch deutlicher gezeigt hätte, dass er die Themen des islamischen Rechts nicht beherrschte.
Ein weiterer Schritt, um sich als Marja’ zu präsentieren, bestand darin, durch Sicherheitsorgane Druck auf anerkannte religiöse Instanzen und bekannte Geistliche auszuüben, damit sie ihm Zeugnisse ausstellten, die seine Qualifikation bestätigten. Zwischen dem 7. Juni und dem dem 26. August 1990 wurden sieben solche Bescheinigungen, von Groß-Ayatollah Mohammad Fazel Lankerani, Ali Meshkini, Ayatollah Ebrahim Amini, Mohammad Yazdi, Abdollah Javadi Amoli, Mohammad Momen Qommi und Youssef Sanaei ausgestellt, die seine Befähigung zur Ableitung von Verhaltensregeln aus den Quellen des islamischen Rechts bestätigten.
Mohsen Kadivar zufolge bescheinigten Ebrahim Amini, Mohammad Momen Qommi, Abdollah Javadi Amoli und Ali Meshkini die nötige Befähigung zum Obersten Führer, nicht die absolute, tatsächliche Qualifikation als Marja’. Sie bestätigten also Khameneis Befähigung, die Praxis betreffende religiöse Angelegenheiten zu beurteilen, jedoch keine theologischen und religiösen Fragen in umfassendem Sinne.
Ab Anfang 1990 begann Khamenei, seine Ansichten darzulegen. Seine ersten Maßnahmen, um sich als Instanz der Nachahmung zu präsentieren, fanden im Ausland statt. So stellte 1992, nach dem Tod von Groß-Ayatollah Abol-Ghasem Khoei, einer bedeutenden Leitfigur schiitischer Gläubiger, der in der irakischen heiligen Stadt Najaf (Grabmal Alis, des ersten schiitischen Imams und Schwiegersohns des Propheten) gelebt hatte, Ahmad Fahri, der Vertreter des Obersten Führers der Islamischen Republik in Syrien, in seiner Freitagspredigt im Schrein von Zainab (der Tochter Imam Alis) Khamenei als Marja’ dar. Dem widersprach jedoch Mohammad Hussein Fazlollah, die oberste religiöse Instanz der libanesischen Schiiten.
Auch einige iranische religiöse Instanzen und bekannten Geistlichen protestierten gegen die Bestrebungen Khameneis, sich eine gefälschte Identität als religiöse Instanz zuzulegen. Sie wurden mit Hausarrest und politischen Angriffen bestraft.
In der schiitischen Tradition werden geistliche Ränge und Titel nicht durch eine zentrale Autorität verliehen, sondern bilden sich nach Jahren des Studiums und der Predigttätigkeit heraus, wenn die Betreffenden die Gefolgschaft vieler Gläubiger und die Anerkennung ihresgleichen gewonnen haben.
Teherans Freitagsimam Ayatollah Abdolkarim sagte am 24. Dezember 1993 in einer Freitagspredigt mit dem Titel „Die Bestimmung religiöser Instanzen in der schiitischen Glaubensrichtung“ in Anspielung auf diese natürliche Wahl durch die Gemeinde der Gläubigen, dies sei das „gesündeste, richtigste und fehlerfreieste Wahlverfahren religiöser Instanzen“. Weiter sagte er „Wenn jemand behauptet, die früheren religiösen Instanzen hätten ihre Nachfolger aufgrund der historischen Umstände nicht bestimmt, in der heutigen Zeit müssten sie dagegen durch Beziehungen bestimmt werden, so ist das falsch.“
Mousavi Ardebili bestätigte, dass Ayatollah Khomeini niemanden als religiöse Instanz nach seinem Tod eingesetzt habe. Dies widerspricht mündlichen Überlieferungen, denen zufolge er Ali Khamenei als absolute religiöse Instanz vorgestellt haben soll.
Diese Predigt sollte die letzte Predigt Ayatollah Mousavi Ardebilis sein.
Auch Ayatollah Montazeri protestierte mehrfach gegen die Bestrebungen, Khamenei als religiöse Instanz darzustellen. Er ließ Khamenei durch Mohammad Momen, ein Mitglied des Wächterrates, die Audioaufnahme einer Rede Fallahzades, des stellvertretenden Geheimdienst-Chefs, zukommen, in der dieser Khamenei als Marja’ bezeichnet. Montazeri warnte Khamenei, dass seine Handlanger bestrebt seien, ihn als religiöse Instanz darzustellen.
Mohammad Momen zufolge soll Khamenei zunächst gesagt haben, er werde Ayatollah Montazeri antworten. Laut Montazeri hielt Khamenei stattdessen am 14. Dezember 1994 eine Hetzrede gegen ihn, in deren Folge es, am 23. und 24. Dezember des gleichen Jahres, zu tätlichen Angriffen gegen Montazeris Gebetsstätte kam.
Am 2. Dezember 1994, nach dem Tod Groß-Ayatollah Arakis, wurde Khamenei als eine der aktuellen sieben religiösen Instanzen vorgestellt. Danach begannen Sicherheitsorgane, Druck auf Geistliche auszuüben, damit sie für ihn warben.
So benachrichtigte Ayatollah Taheri Esfahani durch einen Mittelsmann Ayatollah Montazeri, der Sonderermittler der Provinz Isfahan sei mehrmals zu ihm gekommen und habe darauf gedrungen, er müsse ein solches Schreiben verfassen, bis er sich schließlich dazu gezwungen gesehen habe.
Den Feind
Ab dem Jahre 1997 hegte Khamenei dann den Wunsch, als oberster und einziger Marja’ zu gelten. Hashemi Rafsanjanis Memoiren zufolge wurde Ayatollah Montazeri davon durch Ayatollah Azeri Qommi in Kenntnis gesetzt. Zu letzterem soll Khamenei gesagt haben, sieben oberste religiöse Instanzen zu haben sei nicht richtig. Es solle nur eine geben! Und ebendies solle die Gesellschaft (der Gelehrten der theologischen Fakultät in Qom) vorantreiben.
Am Freitag, den 14. November 1997 hielt Ayatollah Montazeri anlässlich des Geburtstags des ersten schiitischen Imams eine historische Rede, die zum Angriff auf seine Gebetsstätte und zu seinem Hausarrest führte. Dabei soll er über Khamenei geäußert haben, dieser sei nicht würdig und befugt, oberste religiöse Instanz zu sein.
Er erinnerte daran, dass Khamenei keine Abhandlung zu Themen der islamischen Rechts vorgelegt habe und dass sein Büro auf Anfragen Gläubiger Antworten erteilen würde, die auf den Abhandlungen Ayatollah Khomeinis beruhten.
Weiter sagte er, am Abend nach dem Tode Ayatollah Arakis habe sich eine Handvoll Jugendlicher vor der Freitagsmoschee der Theologen zusammengerottet, so wie auch jetzt jugendliche Agenten gekommen seien und mit Gewalt sieben Personen zu religiösen Instanzen erklärt hätten, darunter ihn (Khamenei). Dadurch hätten sie die oberste religiöse Instanz der Schiiten zu einer infantilen Sache herabgewürdigt.
Groß-Ayatollah Ahmad Azeri Qommi schrieb in einem Brief vom 27. Oktober 1997 an Mohammad Khatami, den damaligen Präsidenten: „Es war nicht richtig, dem Obersten Führer die religiöse Autorität zuzusprechen, und ihm zu folgen, verstößt gegen die Prinzipien der Scharia und mit Sicherheit gegen die Verfassung, die auf islamischen Grundlagen beruht.“
Weiter schrieb er, dass „auf Befehl Herrn Khameneis eine Sondereinheit unter dem früheren Geheimdienst-Minister (Ali Fallahian) zur Implantierung seiner religiösen Autorität und Niederhaltung anderer religiöser Instanzen gebildet worden ist.“
Nach Ayatollah Montazeris Rede begannen die Angriffe auf ihn und auf Ayatollah Azeri Qommi. Khamenei rechtfertigte diese offiziell.
Der Führer der Islamischen Republik sagte am 26. November 1997: „Dies ist keine persönliche Angelegenheit. Wegen der schweren Verantwortung, die ich trage, danke ich von Herzen allen, die angetreten sind, um das Wort des Feindes in seiner Kehle zu ersticken und ihm mit der Faust den Mund zu verschließen.“
Die Angriffe auf die beiden religiösen Autoritäten und ihr Hausarrest erfolgten am 19. November 1997. Sie wurden nach den Worten Mohsen Kadivars unter der Leitung von Mohammad Yazdi, dem Chef der Justizbehörde, durchgeführt.
Der gesetzwidrige Hausarrest Ayatollah Montazeris dauerte 5 Jahre, 2 Monate und 12 Tage, während Ayatollah Azeri Qommi 15 Monate, bis zu seinem Tod am 11. Februar 1999 unter Arrest blieb.