Die Entmachtung des Parlaments 5
Die Bemühungen Ali Khamenei’s, die Flügel der Legislative zu stutzen, verstärkten sich besonders ab dem Jahre 2010, während der Amtszeit des achten Parlaments. Im Zuge der unermüdlichen Schaffung neuer Institutionen gelang es ihm, ein Instrument nach seinem Geschmack zu etablieren, das wir heute unter der Bezeichnung „Aufsichtsrat zur Kontrolle des Verhaltens der Abgeordneten“ kennen.
Im Jahr 2010, ein Jahr nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen von 2009, ermahnte er die Parlamentarier und verlangte die volle Kooperation des Parlaments mit der Regierung Präsident Mahmoud Ahmadinejads. Der Oberste Führer kritisierte sogar implizit, dass das Parlament sich erlaubte, an den Gesetzesentwürfen der Regierung Änderungen vorzunehmen.
Ein Jahr später, am 29. Mai 2011, kritisierte er, dass seine früheren Ermahnungen nicht hundertprozentig beachtet worden seien und führte eine innerparlamentarische Kontroll-Instanz ein, um die Abgeordneten dazu zu zwingen: „Hier und da verlautet, dass Abgeordnete frei sein sollen und anderes mehr. Niemand ist gegen die Freiheit der Abgeordneten, nur gegen deren Fehlverhalten. Ein Abgeordneter, der Fehlverhalten zeigt, kann den Ruf des Parlamentes schädigen, ist das nicht schade? Ein so großartiges Parlament, diese Institution unseres Grundgesetzes.“
Weiter sagte er, an die Abgeordneten gewandt: „In früheren Jahrzehnten gab es sogenannte linke Strömungen im Land. Diese haben gute Slogans erfunden, sich selbst aber nicht daran gehalten und keine gemeinschaftliche Frömmigkeit geübt. Unter ihnen waren Personen, die individuelle Frömmigkeit besaßen, aber da sie keine gemeinschaftliche Frömmigkeit übten, kam es dazu, dass sich Aufrührer gegen Imam Hossein, den Islam, den Imam und die Revolution auf sie berufen konnten… Daher bedarf es der gemeinschaftlichen Frömmigkeit.“
Was aber bedeutet diese „gemeinschaftliche Frömmigkeit“? Dazu erläuterte der Oberste Führer: „Letztes Jahr habe ich euch gesagt, dass ihr innerhalb des Parlaments Selbstkontroll-Mechanismen etablieren sollt. Eben das ist ein Beispiel gemeinschaftlicher Frömmigkeit.“
Alle Äußerungen Khamenei’s zielen auf denselben Punkt, nämlich darauf, Abgeordnete, die es wagen gegen den Strom zu schwimmen, zum Schweigen zu bringen.
Er tat dies auf seine typische Weise: Indem er eine scheinbar vernünftige Aussage vorbrachte und nur wenige Sätze später das genaue Gegenteil sagte.
„Ich bestehe keineswegs darauf, dass alle politischen Strömungen sich vereinigen sollen, nein, es gibt natürlicherweise unterschiedliche Vorlieben, unterschiedliche Denkweisen, unterschiedliche Temperamente und politische Ansichten. Diese unterschiedlichen Vorlieben sind in vieler Hinsicht nützlich. Nun kann es aber sein, dass sie auch Schaden verursachen können. Ich bestehe nicht darauf, dass diese Richtlinien unbedingt aufgegriffen werden. Ich bestehe nur auf dem, was ich zuvor gesagt habe: Abgeordnete sollen nicht aufeinander losgehen, nicht streiten, und sich als Herausforderer und blutige Feinde gegenüberstehen und dabei [den wahren Feind] Amerika vergessen. Zweitens sollen sie untereinander Selbstkontrolle üben, sich selbst überwachen, nicht zulassen, dass ihre Partei auf Abwege gerät.“
Ein weiteres Damoklesschwert über den Köpfen der Abgeordneten
Seit ungefähr vierzig Jahren ist der Wächterrat mit der Filterung des Parlaments betraut und lässt nicht zu, dass jemand außer den eigenen Leuten dort hineingelangt. Auch der Justizapparat hat bei verschiedenen Anlässen gezeigt, dass er nicht zögert, die Immunität der Parlamentarier zu verletzen und so das Gesetz zu missachten.
Warum also war Ali Khamenei bestrebt, zusätzlich zu diesen beiden Instrumenten noch eine weitere Institution zu schaffen, um die Abgeordneten zu kontrollieren?
Dafür gab es zwei Hauptgründe:
1. Trotz der Strenge des Wächterrates und seinem Vetorecht gegen Parlamentsbeschlüsse haben in allen Perioden Personen Zutritt zum Parlament gefunden, die es in eine Bühne zur Darlegung ihrer kritischen Standpunkte verwandelt haben.
2. Die Deutlichkeit des Grundgesetzes hinsichtlich der Unverletzlichkeit der Immunität der Parlamentarier hat den Umgang mit Abgeordneten wegen „Abweichlertums“ für den Justizapparat aufwendig gemacht. Wenn aber eine innerparlamentarische Institution bestätigt, dass diese oder jene Bemerkung oder Aktion dieses oder jenes Abgeordneten nicht von seiner parlamentarischen Immunität gedeckt ist, wird es leichter für die Justiz, Strafen zu verhängen.
Die Einsetzung des Aufsichtsrats zur Verhaltenskontrolle der Abgeordneten
Auf Anordnung Khamenei’s bestätigten die Abgeordneten des achten Parlaments mit der Mehrheit der Fundamentalisten und zusammen mit der Obersten Führung das Gesetz zur Bildung eines Aufsichtsrats zur Verhaltenskontrolle der Abgeordneten. Die Gesetzesvorlage war zunächst mit einigen Vorbehalten des Wächterrats an das Parlament zurückgegangen, wurde aber schließlich am 21. April 2012 bestätigt und in gültiges Gesetz verwandelt.
Laut diesem Gesetz muss jedes neue Parlament innerhalb von drei Monaten seinen eigenen Aufsichtsrat bilden. Dieser prüft
- Berichte über angebliche finanzielle und moralische Verstöße, darunter ungewöhnlich hohe Einkommen und Ausgaben
- Berichte über Verstöße gegen den Verhaltenskodex der Parlamentarier
- Berichte über Handlungen von Parlamentariern gegen „die nationale Sicherheit“ und andere angebliche Straftaten
Nach Abschluss der Untersuchungen gibt der Aufsichtsrat über jeden Fall sein Votum ab und kann die Akte von Abgeordneten, die er für schuldig hält, an die Justiz weitergeben. Mit anderen Worten, er kann die parlamentarische Immunität aufheben.
Der letzte Gnadenstoß
Als wäre all das nicht genug, legten acht Jahre nach Bildung des ersten Aufsichtsrates und der Erfahrung von zwei Legislaturperioden seiner Aktivität, die neuen, fundamentalistischen und wenig erfahrenen Abgeordneten des elften Parlaments in den ersten Tagen ihres Zusammentretens dem Vorsitzenden einen Entwurf zur Reform des Gesetzes zur Verhaltenskontrolle der Abgeordneten vor – dies kurz bevor der Ausbruch der Corona-Pandemie auch in Iran offiziell zur Kenntnis genommen wurde.
Der Entwurf enthielt unter anderem den Vorschlag, den Mitgliedern des Aufsichtsrates Personen aus dem Justizapparat, dem Sicherheitsapparat und einen der Juristen aus dem Wächterrat an die Seite zu stellen, mit anderen Worten, Nicht-Parlamentariern zu erlauben, über das Verhalten von Parlamentariern zu urteilen.
Darüberhinaus schlugen die Verfasser des Entwurfs vor, dass der Aufsichtsrat auch nach der Untersuchung der Klagen und Berichte mit der Kontrolle und Aufdeckung von Verstößen betraut sein und jederzeit Abgeordnete vorladen und ihre Verstöße untersuchen können soll.
Diese Revisionen würden das endgültige Aus für die Unabhängigkeit der staatlichen Gewalten und die Freiheit der Abgeordneten bedeuten.