Initiativen, die Khamenei gefallen
Anfang Oktober trieb die iranische Nationalpolizei NAJA in verschiedenen Städten des Landes Gruppen von Menschen in sogenannten „Strolch-Paraden“ unter Beleidigungen und Schlägen durch die Straßen. In der dritten Oktoberwoche dankte Ali Khamenei, der Oberste Führer der Islamischen Republik, dem Kommandeur der Nationalpolizei für diese „Initiative der Ordnungskräfte“.
Die letzte Nummer des Bulletins seines Büros, das in Moscheen, bei Freitagspredigten und an den Standorten der paramilitärischen Basij verteilt wird, war einem Basiji gewidmet, der „Märtyrer der Förderung des Gebotenen und Verhinderung des Verbotenen“ genannt wurde, und eben jenes „Feuer frei“ praktizierte, mit dem sich Sicherheitskräfte und Bürgerwehren laut den Gesetzen der Islamischen Republik in die individuelle Privatsphäre iranischer Bürger einmischen dürfen.
Der Twitter-Account Khameneis in der gleichen Woche zeigte seine Besorgnis hinsichtlich der Neuordnung der Beziehungen der Region durch den Vertrag, der Israel Zugang zu Irans Nachbarländern gewährt.
Am 20. Oktober veröffentlichte Khameneis Webseite in Würdigung der „Woche der Polizei“ eine Botschaft an General Hossein Ashtari, den Oberkommandierenden der iranischen Nationalpolizei, in der es hieß, „die Menschen“ seien der NAJA dankbar und begrüßten „deren Initiativen zur Bekämpfung der Sittenwidrigkeiten“.
Gleichzeitig gedachte die Wochenzeitschrift „Linie der Hezbollah“ in ihrer Nummer 259 Mohammad Mohammadis als „Märtyrer der Förderung des Gebotenen und Verhinderung des Verbotenen“.
Mohammad Mohammadi wurde als Basiji des Teheraner Standorts „Widerstand der Freunde des Imams“ vorgestellt, der am 8. Oktober im Osten Teherans getötet worden sei. Die inner-iranischen Medien, darunter „Stimme und Bild der Islamischen Republik“, schrieben in ihren Berichten, Mohammadi sei in einer Auseinandersetzung mit Strolchen und Gesindel im Osten Teherans zu Tode gekommen. Als er diese wegen Belästigung einer Frau verwarnt habe, seien sie „gemeinsam über ihn hergefallen“ und hätten ihn „mit einem spitzen Gegenstand auf den Kopf geschlagen“.
Laut einer Quelle von IranWire war Mohammadi ein Vollzeit-Basiji und habe deshalb als Mitglied der Revolutionswächter gegolten. Er habe zu den bekannten Hezbollahis im Teheraner Stadtteil Pars gehört. Als in jener Nacht ein Motorradfahrer eine junge Frau verbal belästigt habe, sei Mohammadi eingeschritten. Alle kannten ihn und wussten, dass er nichts auf sich beruhen ließ. Im Laufe des Handgemenges habe Mohammadi eine Waffe gezogen.
Mit Blick auf die vorausgegangenen „Strolch-Paraden“ kann man sich fragen, ob dieser Vorfall nicht eine Racheaktion einiger derer war, die von Regierungsseite als „Strolche“ und „Gesindel“ bezeichnet werden.
Unser Informant weist auf die letzte „Strolch-Parade“ in Teheran vom 6. Oktober hin, die von der Öffentlichkeit und in den sozialen Medien weithin kritisiert wurde.
Von anderer Seite gab es allerdings auch Beifall dafür. So veröffentlichten einen Tag nach der Botschaft Khameneis mit seinem Lob der „Initiative“ der Ordnungskräfte 222 Parlamentsabgeordnete eine Erklärung, in der sie den Ordnungskräften dankten und ihr Verhalten als Zeichen des entschlossenen Vorgehens zur „Herstellung der öffentlichen Ordnung“ beschrieben.
Ali Motahhari, der vormalige stellvertretende Parlamentssprecher, unterstützte mit der Veröffentlichung einer Notiz in der Zeitung „Sharq“, die auch auf der Webseite der Revolutionswächter veröffentlicht wurde, das Vorgehen der Ordnungskräfte bei der Strolch-Parade: „Ein Rowdy, der glaubt, er werde nach einem Vergehen einfach so wieder aus dem Gefängnis entlassen, fühlt sich ermutigt.“ Weiter schrieb er „Die neue Vorgehensweise der Ordnungskräfte mit dem Spießrutenlauf des Gesindels hat gute Wirkung gezeigt.“
Am 21. Oktober war General Hossein Ashtari zu einer öffentlichen Parlamentssitzung geladen, wo er die Unterstützung durch Khamenei als „herzerwärmend“ bezeichnete. Er verkündete, dass „die Mission der Ordnungskräfte fortgesetzt werde“ und dass „die Polizei über mehr als 10.000 fest stationierte und 30.000 mobile Patrouillen verfüge.“
Die Aktion gegen „Strolche und Gesindel“ erfolgt auf Basis des „Plans zur Erhöhung der sozialen Sicherheit“, nach dem Erlass des Hohen Rates der Kulturrevolution unter dem Titel „Projekt der allgemeinen sittlichen Reinheit“, der ab 2007 in Kraft trat.
In Verwirklichung dieses Projekts stürmten Anfang Oktober schwarz gekleidete, vermummte Männer Wohnungen, verhafteten Individuen, trieben sie mit blutigen Gesichtern durch die Straßen und hängten ihnen zusätzlich Gießkannen um den Hals, die traditionellerweise zur Reinigung beim Toilettengang benutzt werden. Einem früheren Bericht von IranWire zufolge gehörten diese schwarz Uniformierten mit schwarzen Sturmhauben zur NOPO, der iranischen Antiterror-Einheit.
Die Nützlichkeit von Gaunern
Hossein Hamedani, einer der obersten Befehlshaber der Revolutionswächter, der am 7. Oktober 2015 in Syrien getötet wurde und eine wichtige Rolle bei der Unterdrückung der Straßenproteste gegen das Wahlergebnis 2009 spielte, brüstete sich in einem Interview mit der Umerziehung von Gesindel und Strolchen: „Fünftausend von denen, die an den Unruhen teilnahmen, waren Strolche und Gesindel und gehörten zu keiner politischen Bewegung. Wir haben sie identifiziert und in ihren Wohnungen aufgesucht. An den Tagen, an denen zu den Protesten aufgerufen wurde, durften sie ihre Wohnungen nicht verlassen. Danach habe ich sie in die Patrouillen eingegliedert. Die drei Paraden haben gezeigt, dass wir im Umgang mit Messern und Schlagstöcken vertraute Individuen benutzen müssen, wenn wir islamische Kämpfer heranziehen wollen.“
Vielleicht hatte ja Mohammad Mohammadi, der kürzlich geehrte „Märtyrer“ auch zu dem umerzogenen „Gesindel“ gehört, von dem General Hamadani in jenem Interview gesprochen hatte.
Die nächtlichen Patrouillen der Basiji wurden ab dem Jahre 2009 offiziell gutgeheißen. In einer Reihe von Erklärungen aus dem Jahre 1998, die im Bulletin „Linie der Hezbollah“ nochmals veröffentlicht wurden, bezeichnete Khamenei die „Förderung des Gebotenen und Verhinderung des Verbotenen“ als eines der „Wunder des Islams“.
Dieses „Wunder des Islams“ kommt im Artikel 8 der Verfassung der Islamischen Republik zur Sprache und wird als gegenseitige Pflicht der Menschen, der Regierung gegenüber dem Volk und des Volkes gegenüber der Regierung bezeichnet. Gegenüber der Regierung wohlgemerkt, und nicht etwa gegenüber dem Obersten Rechtsgelehrten, der anscheinend makellos und über jegliche Kritik erhaben ist. Im Gegenteil, alles soll so gesagt werden, „dass es dem Herrn gefällt“! Dass Ali Khamenei von jeglicher Kritik ausgenommen bleibt, ist vor über drei Jahren zu einem Hashtag in Teilen der Gesellschaft geworden. Damals hatte ein Theologiestudent berichtet, dass ein Komitee seine Rede überprüft und Änderungen vorgenommen hatte, bevor er zu einer Sitzung mit Ali Khamenei zugelassen wurde, damit „#Es-dem Herrn-gefällt“.
Der Jurist Musa Barzin Khalifehlou erklärte in einem Interview mit IranWire, dass eben diese Förderung des Gebotenen und Verhinderung des Verbotenen zu korruptem Verhalten führt. „Wenn es einem jeden freisteht, beispielsweise eine Mitbürgerin zu rügen, weil sie angeblich nicht ordnungsgemäß ihr Haar bedeckt oder jeder auf der Straße den anderen nachspionieren kann, dann führt das zu Chaos und Gewalt und beeinträchtigt die Herrschaft von Recht und Gesetz.
Interessanterweise werden Aktivisten und Journalisten, wenn sie beispielsweise Wirtschaftskorruption aufdecken oder einen Brief an Ali Khamenei schreiben, verhaftet und eingesperrt.
Khalifehlou bezieht sich auf einen offenen Brief von 14 Aktivisten, in dem sie die Abdankung Khameneis und Verfassungsänderungen hinsichtlich der Macht des Obersten
Führers forderten. Der Brief wurde im Juni 2019 veröffentlicht, seine Unterzeichner wurden wenig später verhaftet und wanderten ins Gefängnis. „Dabei wollte der Brief der Aktivisten sowohl das Gebotene fördern, als auch das Verbotene verhindern. Diese doppelgesichtige Politik zeigt, dass die Absicht hinter der ‚Förderung des Gebotenen und Verhinderung des Verbotenen‘ das Ausspionieren von Bürgern durch Bürger ist. Zu welchen ideologischen Zwecken die religiösen Extremisten dieses Prinzip implantiert haben, ist unklar.“
All das, obwohl nach internationalen Standards und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und auch nach dem Internationalen Abkommen über bürgerliche und politische Rechte, dem auch Iran beigetreten ist, ausdrücklich erklärt wird, dass niemand das Recht hat, sich in das Privatleben anderer einzumischen. Wie Musa Barzin Khalifehlou erklärt, ist aus juristischer Sicht nicht einmal klar, was „Das Gebotene“ und was „Das Verbotene“ genau beinhaltet. „Das widerspricht dem Grundsatz, dass Verbrechen und Strafen definiert sein müssen. Außerdem ist es aus juristischer Sicht nicht richtig, diese Aufgaben in die Hände aller zu geben. Dass gesetzlich geboten wird, solche Sittenwächter in Wort und Tat zu unterstützen, ist lächerlich und steht komplett im Gegensatz zu internationalen Standards und insbesondere zum Internationalen Abkommen über bürgerliche und politische Rechte.“
Dennoch hat der Führer der Islamischen Republik wiederholt angeordnet, dass die Menschen aufeinander losgehen sollen. Ihm gefällt dieses „Feuer frei“. Im Juni 2017 gab er in einem Treffen mit Studenten den Befehl, sie sollten als Offiziere eines „sanften Krieges“ bereit zum Einsatz sein: „Im Krieg gibt es eine Einsatzzentrale, die befiehlt, aber wenn die Verbindung zur Einsatzzentrale abbricht oder diese sich als fehlerhaft erweist, dann gibt der Kommandant den Befehl zum ‚Feuer frei‘. Ihr seid Offiziere des sanften Krieges – ihr sollt die jungen Offiziere eines sanften Krieges sein – dort, wo ihr das Gefühl habt, die Einsatzzentrale hat Lücken und kann nicht richtig dirigieren, habt ihr ‚Feuer frei‘, das heißt, ihr müsst selbst entscheiden, denken, finden, vorgehen, handeln.“
Es ist daher nicht weit hergeholt, wenn einige vermuten, dass Mohammadi als Basiji Revolutionswächter bei einer nächtlichen Patrouille im Sinne der Förderung des Gebotenen und Verhinderung des Verbotenen Selbstjustiz üben wollte. Über das Schicksal der von ihm angegangenen „Strolche“ und „Herumtreiber“ ist nichts bekannt.
Khamenei zwischen den Stühlen
Auf Ali Khamenei digitalen Accounts werden normalerweise seine Erklärungen zu verschiedenen Anlässen veröffentlicht. Am 20. Oktober jedoch wurde ein Tweet des Obersten Führers der Islamischen Republik in verschiedenen Sprachen veröffentlicht, das auf die letzten Schritte des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, nur wenige Tage vor den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, Bezug nahm, in deren Folge die arabischen Staaten der Region und Israel diplomatische Beziehungen aufnahmen.
Der Oberste Führer der Islamischen Republik schrieb: „Die muslimischen Nationen werden die Erniedrigung der Versöhnung mit dem zionistischen Regime keinesfalls tolerieren. Wenn die Amerikaner sich einbilden, Probleme der Region auf diese Weise lösen zu können, so irren sie sich. Der Status jedes Regimes, das sich an den Verhandlungstisch mit dem zionistischen Besatzungs-Regime setzt, wird in den Augen seiner Nation erschüttert werden.“
Diese Erklärung wurde an demselben Tag veröffentlicht, an dem die erste offizielle Delegation der Arabischen Emirate zu Friedensverhandlungen Israel besuchte und im ersten Schritt die Visumpflicht zwischen beiden Ländern abschaffte. Die Medien berichteten zudem, dass anlässlich dieser Reise zahlreiche Verträge unterzeichnet worden seien, wie ein Abkommen über 24 Flüge pro Woche zwischen beiden Ländern.
Steven Mnuchin, der amerikanische Finanzminister, der die Delegation der Emirate begleitete, hatte vor dieser Reise gesagt, wenn Donald Trump die Präsidentschaftswahlen gewinne, würden noch mehr Länder Frieden mit Israel schließen.
Die jüngste Stellungnahme Khameneis scheint nicht nur an Amerika gerichtet, sondern auch ein Ultimatum an die arabischen Länder zu sein, die kürzlich auf Trumps Vermittlung mit Israel Frieden geschlossen haben oder diesen Schritt wahrscheinlich noch tun werden. Diesen Friedensschluss der arabischen Länder mit Israel wird Trump in den in wenigen Tagen anstehenden Präsidentschaftswahlen zu Propagandazwecken nutzen.
Am 23. Oktober verkündete Donald Trump im Weißen Haus, Sudan werde das dritte Land des Mittleren Ostens sein, das seine Beziehungen zu Israel unter Vermittlung der Trumpschen Verwaltung normalisieren werde. Vor der Kamera fragte er Benjamin Netanyahu in einem Telefongespräch: „Denkst du, der schläfrige Joe (Joe Biden, sein Rivale von der Demokratischen Partei) hätte so eine Übereinkunft zustande gebracht? Ich denke, er hätte das nicht fertiggebracht…“
Einige Stunden später veröffentlichte der Fernsehkanal Khameneis ein Video einer Rede, die er im Sommer 2019 gehalten hatte. Damals sagte er, indem er den Vornamen des amerikanischen Präsidenten falsch aussprach oder verwechselte: „Auch in der Politik hat das Gewicht Amerikas abgenommen. Und dies hat einen einzigen Grund, nämlich die Wahl eines Individuums mit den Eigenschaften von Herrn Ronald Trump.“
Es scheint, dass die auf der Webseite Khameneis und in den ihm unterstehenden Medien geäußerten Ansichten sehr weit von denen iranischer Aktivisten in den sozialen Netzwerken entfernt sind. Auch in der Außenpolitik ist das, was Irans Nachbarn verfolgen und was in ihren gegenseitigen Beziehungen passiert, weit entfernt von den Wünschen und Parolen Khameneis. Er ist in einem doppelten Dilemma gefangen: Der zunehmenden Spaltung zwischen Regierung und Volk im Inneren und den neu etablierten Beziehungen zwischen den Ländern der Region.